Wie alles begann

Interview aus der Momentmal! aus dem Jahr 2013

Einen guten Einblick in die Anfangszeit und die Motive der Gründerpersonen gibt ein Interview, welches das Redaktionsmitglied der Momentmal!, Michaela Abresch, im Jahr 2013 mit Winfried W. und Brunhilde Weber geführt hat:

Momentmal!: Wie ist die Idee entstanden, vor 30 Jahren den Verein für Behindertenarbeit zu gründen?

Winfried W. Weber: Der Gründung ging eine Entwicklung voraus, die von mehreren Faktoren beeinflusst wurde. Im Rückblick betrachtet trug eine bestimmte Person sicher maßgeblich dazu bei. Sie lebte in meinem Heimatort, ihr Name war Erna und aufgrund ihrer geistigen Behinderung war sie, wie damals und auch heute noch mancherorts üblich, dem Spott und der Verachtung der Leute ausgesetzt. Man verheiratete sie mit einem Landstreicher, der sich aber nicht um sie kümmerte und sie allein ließ, woraufhin man Erna entmündigte und fortbrachte. Als ich nach meinem Studium wieder in meinem Heimatort lebte und Kontakt zu Erna aufnahm, indem ich sie im ‚Nette-Gut‘ in der LNK Andernach besuchte, wurde mir die Vormundschaft angetragen. Ernas Wunsch, wieder in der Heimat, im Westerwald zu leben, konnte ich nach zähem Kampf erfüllen. Sie wohnte daraufhin in verschiedenen Altenheimen nahe Großseifen, übrigens auch in der ‚Alten Gendarmerie‘, als dort noch ein Altenpflegeheim untergebracht war. Dass ich die Sicherheit einer ‚Lebensstellung‘ als Betriebswirt im Direktorium der Deutschen Bundesbank in Frankfurt aufgab, um einen völlig anderen Weg einzuschlagen und mich dem Studium der Sonderpädagogik zu widmen, ist nicht zuletzt Erna zu verdanken, die mir gezeigt hat, wie belebend und bereichernd das Zusammensein und die Arbeit mit beeinträchtigten Menschen sein kann. Die Erfahrungen während meiner Praktika in Sonderschulen und einem Obdachlosenheim in Mainz waren weitere Vorläufer zu einer Konzeptentwicklung, die fast zwei Jahre in meinem Kopf und auf dem Papier bestand, bevor sie sich im Alten Kurhaus in Seck realisierte.

Momentmal!: Wie gelang es Ihnen, Ihre Frau von Ihrem Vorhaben zu überzeugen?

W. Weber: Sie hatte meine Bemühungen um Erna ja miterlebt, kannte mein Interesse für benachteiligte Menschen und sie wusste auch, dass mich meine Arbeit als Betriebswirt nicht erfüllte. Außerdem hatte sie in ihrer Herkunftsfamilie ähnliche Erfahrungen machen können. Auch ihr Vater kümmerte sich seit Jahrzehnten um einen geistig behinderten Dorf-bewohner, der Ähnliches wie Erna erlebt hatte und in die Anstalten Scheuern gebracht wurde.

Brunhilde Weber: Die Entscheidung, die Pläne meines Mannes zu unterstützen und mich vollkommen in dieses Projekt ‚Familienorientiertes Wohnen‘ im ‚Alten Kurhaus‘ mit einzubringen, erforderte mehr als nur ein zustimmendes Kopfnicken. Wir waren zu der Zeit eine junge Familie, hatten ein Haus gebaut und eingerichtet, unsere Mädchen und unser Baby von einem halben Jahr verlangten unsere ganze Aufmerksamkeit. Ich war Krankenschwester, wollte auch weiterhin in meinem Beruf arbeiten und hatte mit Pädagogik nichts am Hut... Die Entscheidung, eigene Vorstellungen und Wünsche zu verwerfen, weil man sich plötzlich mit einer vollkommen anderen Lebensplanung auseinandersetzen muss, trifft man nicht nebenbei. Heute glaube ich, dass ich mich nur darauf einlassen konnte, weil ich meinem Mann bedingungslos vertraute und wusste, dass gelingen wird, was er sich in den Kopf setzt. Auch ein gewisses Gottvertrauen, das ich schon seit jeher in mir trage, hat mir damals sehr geholfen und mir die nötige Kraft und Zuversicht verliehen.

Momentmal!: Sie haben die Geschichte des Vereins nicht nur erlebt, sondern selbst mitgeschrieben. Können Sie ein Ereignis der Anfangszeit schildern, das prägend für die Zukunft war?

W. Weber: Ich knüpfe es weniger an ein bestimmtes Ereignis. Es war mehr das Erkennen, welche Bedeutung unser Wohnangebot für die Angehörigen der ersten (und später aller fol-genden) Bewohner hatte. Zu sehen, dass die eigene Vorstellung, beeinträchtigten Menschen heimatnah ein Zuhause zu geben, zur Entlastung und zu einer wertvollen Hilfe für einen Teil der Gesellschaft geworden war, dass meine idealistische Idee auf fruchtbaren Boden fiel, schuf einen ungeheuren Antrieb. Ebenso motivierend wirkten allerdings auch die Steine, die uns anfangs in den Weg gelegt wurden. Andere wären vielleicht darüber gestolpert, wir aber begannen darüber hinweg zu klettern.

Momentmal!: Über welche Eigenschaften verfügen Sie, die maßgeblich dazu beitrugen, dass Sie den Anfangsschwierigkeiten trotzen konnten?

W. Weber: Ich bin ein überaus geduldiger Mensch und daher in der Lage, jahrelang auf eine Chance zu warten, wo andere längst aufgeben würden. Außerdem zähle ich Willensstärke, Zielstrebigkeit und Neugierde zu meinen positiven Charaktereigenschaften. Darüber hinaus spielte aber auch der Idealismus eine große Rolle, der meine Frau und mich damals beflü-gelte.

B. Weber: Jeder Mensch trägt ja etwas in sich, das ihm vom Schöpfer geschenkt wurde, ein Talent, eine Gabe. Dies zu erkennen und es zum Wohle anderer zu einzusetzen, indem man sich, wie wir, um eine benachteiligte Gruppe von Menschen unserer Gesellschaft bemüht, kann wiederum Kräfte freisetzen, die wir damals so dringend brauchten und ohne die wir die Anfangszeit vielleicht nicht in der Form gemeistert hätten.

Momentmal!: Sie lebten mit den Bewohnern gemeinsam im ‚Alten Kurhaus‘ wie eine große Familie, hatten drei kleine Kinder (Ihre Töchter waren 8 und 4 Jahre alt, Ihr Sohn ein halbes Jahr, als Sie das Kurhaus bezogen), denen Sie gerecht werden wollten. Wie ist Ihnen damals der Spagat zwischen Privatleben und Arbeit gelungen?

W. Weber: Als unverzichtbares und wertvollstes Element ist hier die Solidarität innerhalb der Familie zu nennen, der familiäre Zusammenhalt und die Unterstützung meiner Frau. Da wir von Anfang an unseren privaten Wohnbereich hatten, eine Art abgegrenzte Einheit innerhalb des Hauses, gab es trotz der Vermischung von Arbeit und Privatleben immer wieder Rückzugsmöglichkeiten, in denen dann auch ein privates Familienleben möglich war, wenn auch nicht im klassischen Sinn, aber das war ja auch nicht unser Bestreben. Dennoch war der Auszug aus dem Kurhaus in unsere eigene Wohnung irgendwann unumgänglich.

B. Weber: Außerdem erkannten wir schnell die Notwendigkeit, uns neben der engen Art des Zusammenlebens mit den Bewohnerinnen und Bewohnern auch außerhalb dessen zu engagieren. Ich war ehrenamtlich in der Kirchengemeinde tätig und gemeinsam mit meinem Mann später auch im Elternbeirat von Kindergarten und Schule. Diese Aufgaben außerhalb des Kurhauses beanspruchten zwar Teile unserer knapp bemessenen Freizeit, wir merkten aber, wie gut es uns tat, unsere Zeit nicht nur auf das Leben, den Alltag im ‚Alten Kurhaus‘ zu beschränken, sondern hin und wieder mit anderen Dingen zu füllen.

Momentmal!: Wenn Sie zurückdenken an die ersten Jahre im ‚Alten Kurhaus‘ – gab es Momente, in denen Sie Ihre Entscheidung, diese besondere Lebensaufgabe gewählt zu haben, bereuten?

W. Weber: Ich erinnere mich an Phasen, in denen ich merkte, dass der Idealismus überstrapaziert worden war. Wenn keine Zeit mehr bleibt, um aufzutanken, um in Ruhe ein Buch zu lesen oder wenn wichtige private Termine vergessen werden – sind das Zeichen einer Überlastung, die ich aber zum Glück frühzeitig erkannte und die der Auslöser waren, über einen Auszug aus dem Kurhaus nachzudenken. Wirklich bereut habe ich meine Entscheidung nie.

Momentmal!: An welche besonders kuriose oder einprägsame Situation aus der Anfangszeit erinnern Sie sich spontan?

W. Weber: Da fällt mir die Anschaffung unseres ersten Kurhaus-Busses ein. Ein Bauunternehmen aus Seck überließ uns einen VW Bus, der schon 500.000 Kilometer auf dem Tacho hatte. Wir zahlten eine Mark dafür und waren so glücklich und stolz, wie man es nur sein konnte. Nach etwa einem Jahr starteten wir mit zwei Betreuern und sechs Bewohnern in die erste Freizeit, in den Schwarzwald. Während dieser Freizeit gab unser geliebter Bus den Geist auf, blieb mit einem Motorschaden in Lörrach in der Nähe der Schokoladenfabrik lie-gen. Den Rest der Freizeit verbrachte ich in Werkstätten und damit, die Formalitäten mit dem Abschleppunternehmen zu regeln. Mit einem Leihbus kehrten wir nach Hause zurück und es dauerte etliche Monate, bis wir von der Aktion Mensch ein neues Fahrzeug in Besitz nehmen konnten.

B. Weber: Ein ebenso unvergessliches, aber sehr viel bedrückenderes Ereignis geschah am Tag meines 30. Geburtstages, an dem unsere gerade frisch renovierten Privaträume im ‚Al-ten Kurhaus‘ unter Wasser standen. Durch Schneeschmelze und Dauerregen rann das Wasser in Sturzbächen aus dem Wald und flutete das Grundstück. Es stand etwa 30 Zentimeter hoch in unserem Wohnbereich. Ich sehe heute noch Jureks Krabbeldecke und seine Spielsachen in der schlammigen Brühe treiben. Fünf Stunden lang war die Feuerwehr im Einsatz. Anschließend begannen die Renovierungsarbeiten von vorn – eine zermürbende Situation, die wir jedoch mit Hilfe von spontaner und engagierter Hilfsbereitschaft bewältigen konnten.

Momentmal!: „Wer Großes tun will, soll mit dem Kleinen beginnen“ ist auf der Homepage der GFB zu lesen. Die Eröffnung des ‚Alten Kurhauses‘ im Dezember 1983 als familienorientierte Lebensgemeinschaft war der erste kleine Schritt, dem viele weitere, erheblich größere folgten. Wann haben Sie erstmals über eine entsprechende Entwicklung, bzw. über eine Ausweitung dieses anfänglich ‚Kleinen‘ nachgedacht?

W. Weber: Sehr bald, nachdem das ‚Alte Kurhaus‘ voll belegt war. Im Grunde waren es die Bewohner, die uns die notwendigen Impulse gaben. Wir sahen, wie sie in ihrer neuen Selbstständigkeit aufblühten, wie sie sich entwickelten und dass unser Kampf für ihre Mündigkeit zu einem wundervollen Ziel führte. Viele von den damaligen Bewohnern führen heute ein selbstbestimmtes Leben in absoluter Selbstständigkeit. Diese Schritte zu beobachten und mitzuerleben, hat uns damals angespornt, über weitere Möglichkeiten einer Verbesserung der Lebenssituation für Menschen mit Beeinträchtigungen nachzudenken.

B. und W. Weber: An dieser Stelle sei ein herzliches Danke gesagt – allen Weggefährten und Gründungsmitgliedern. Zudem großen Dank allen Spendern und den Menschen, die un-sere Ideen durch eine Mitgliedschaft oder ehrenamtliche Tätigkeit unterstützen, im Besonderen dem Vorstand und den Mitgliedern, die 1997 gemeinsam mit uns die existenzielle Krise bewältigt und dem Verein eine gute Perspektive ermöglicht haben. Dank und Anerkennung allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihre große Einsatzbereitschaft und das den uns anvertrauten Menschen entgegengebrachte Wohlwollen. Zu guter Letzt gilt ein großes Dankeschön unseren wunderbaren Kindern und der erweiterten Familie, die die Entwicklung miterlebt haben und uns jederzeit großen Rückhalt schenken.

Momentmal!: Vielen Dank für dieses interessante und offene Gespräch – und einen herzlichen Glückwunsch vom Redaktionsteam zum 30. Jubiläum!

 

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